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Ludwig D. Morenz (Universität Leipzig):

Verdichtete Gesten. Soziale Theatralik in der ägyptischen Hieroglyphenschrift

Vortrag im Rahmen von „Das Konkrete als Zeichen“, 12. Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS), Stuttgart, 9. bis 12. Oktober 2008; Sektion „Gesten in der Kommunikation: Prozesse der Konkretisierung und Abstraktion“.

 

 

In Sprachursprungsdebatten wurden bis ins 19. Jh. hinein Gebärden im Unterschied zu den diversen Lautsprachen als mögliche Universalsprache angesehen. Allerdings sind sie wie die Wortsprachen kulturell spezifisch geprägt und ebenso arbiträr, nicht einfach authentisch, sondern zugleich diskursiviert. Wie die Schrift bilden die Gesten ein visuelles Kommuniationssystem, und zwar ein Jahrhunderttausende älteres. Beide teilen also eine enge Familienähnlichkeit. Dies gilt in besonderer Weise für die ägyptische Schrift, denn im Hieroglyphensystem sind lautliche und visuelle Kommunikation dicht verwoben. Die visuelle Komponente der face-to-face-Kommunikation wurde neben der äußeren Bildhaftigkeit der Zeichen schriftfunktional vor allem bei den Determinativen und Logogrammen ins Schrift-Bild transformiert. Bei diesen Zeichentypen wirkte das ikonische Potential der Zeichen besonders stark.

Historisch betrachtet spielte die Gestik in der Herausbildung der Schrift dagegen eine angesichts der strukturellen Verwandtschaft erstaunlich geringe Rolle. Immerhin wurden gestische Zeichen gerade an Schnittstellen der ägyptischen Schriftgeschichte im Rahmen wichtiger Reformen komponiert.

Weder die Hieroglyphenschrift noch andere kombiniert phonetisch-semantischen Schriften wie die Keilschrift oder die chinesische Schrift entstanden als eine einfache Umsetzung der weit älteren visuellen Kommunikationstechnik der Gesten, sondern das Schreiben war eine neuartige Kulturtechnik mit Beginn im 4. Jt. v.Chr. und stand im Rahmen sozio-ökonomischer und mentalitätsgeschichtlicher Bedingungen. Gleichwohl bot die Gestik – und damit die Welt der kulturell geformten sozialen Interaktion – eine Inspirationsquelle für die Zeichen schaffenden und reformierenden Schreiber. Wenn sie bestimmte Elemente der ausdrucksstarken Körpersprache in das Schrift-Bild transformierten, reizte sie dazu vermutlich die schriftanalog lesbare Körpersprache.

Uns bietet eine Analyse der gestischen Hieroglyphen nicht nur Einblicke in das Schriftsystem und die Mentalität der Schreiber, sondern auch Einsichten in die ägyptische Theater-Kultur mit ihren sozio-kulturellen Bedingungen der Interaktion, in Mechanismen der visuellen Kommunikation und in Gestaltungsbedingungen graphischer Zeichen. Dabei sehen wir an konkreten Fällen, wie biologische Grunddispositionen des Menschen sowohl formal als auch funktional in spezifisch ägyptischer Weise geprägt wurden. Das Brust-Trommeln z.B. ist altes Primatenerbe, seine Inszenierung im Ritual und die Gestaltung in der Hieroglyphe dagegen typisch ägyptisch.