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Judith Schrauf (Philipps Universität Marburg):

Vom Konkreten im Abstrakten. Eine empirische Analyse zum Konkretheitseffekt

Vortrag im Rahmen von „Das Konkrete als Zeichen“, 12. Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS), Stuttgart, 9. bis 12. Oktober 2008; Sektion „Gesten in der Kommunikation: Prozesse der Konkretisierung und Abstraktion“.

 

 

In der Neuro-/Psycholinguistik finden sich zahlreiche Belege für einen Konkretheitseffekt, der einen Verarbeitungsvorteil von konkreten gegenüber abstrakten Nomen darstellt. Dieser Effekt zeigt sich unter anderem daran, dass Konkreta im Vergleich zu Abstrakta früher erworben (Schröder, Kauschke & DeBleser, 2003) sowie schneller verarbeitet (Holcomb et al., 1999) werden und weniger störanfällig (Barry & Gerhand, 2003) sind. Obwohl für diesen Vorteil zugunsten der Konkreta Erklärungsmodelle wie die „Dual-Coding-Theory“ oder die „Context-available-Theory“ vorliegen, fehlt es an einem linguistisch orientierten Klassifizierungsansatz für die Unterscheidung von konkreten und abstrakten Wörtern. Fragen wie „Wann und warum beginnen Nomen abstrakt zu werden?“ oder „Sind alle Abstrakta gleich abstrakt?“ spielen im Rahmen der Forschung um den Konkretheitseffekt eine untergeordnete Rolle.

Für eine Annäherung an diese Fragen wird im Vortrag ein linguistischer Ansatz zur Abgrenzung der Abstrakta von Konkreta skizziert, der auf dem sinnesphysiologischen Modell nach Ewald (Ewald, 1992) und dem semasiologisch-psychologischen Ansatz nach Kronasser (Kronasser, 1952) basiert. Dabei wird das in der Linguistik übliche Vorgehen einer strikten Trennung zwischen Konkreta und Abstrakta zugunsten der Annahme dynamischer Konkretisierungsmechanismen und der Annahme fließender und abgestufter Übergänge vom Konkreten zum Abstrakten aufgegeben. Wichtige Faktoren, die zur Konkretisierung führen, werden auf zwei Ebenen angenommen: (1) einer primären Ebene, die sich aus der allgemeinen Erfahrung eines Menschen (Wahrnehmung – Emotion – Kultur) konstituiert und (2) einer sprachlich-kommunikativ ausgerichteten sekundären Ebene, bei der Metaphern (verbal) und redebegleitende Gesten (nonverbal) zentrale Konkretisierungsinstrumente darstellen.

Zwei Experimente, die der empirischen Überprüfung von Konkretisierungsmechanismen dienen, werden im Vortrag vorgestellt: Ein Reaktionszeitexperiment zum lexikalischem Entscheiden mit verschiedenen Probandengruppen (Geburtsblinde, Synästhetiker) sowie Interviews über Abstrakta aus den Bedeutungsgruppen Gefühle und Menschliche Vorstellung. Die Ergebnisse beleuchten die Einflüsse der Sinneswahrnehmung und der Sprache auf die Verarbeitung und Konkretisierung von Abstrakta und unterstreichen die Notwendigkeit, die Dynamik bei der Subklassifizierung von Konkreta und Abstrakta in Untersuchungen des Konkretheitseffektes zu berücksichtigen.

 

Barry, C. & Gerhand, S. (2003). Both concreteness and age-of-acquisition affect reading accuracy but only concreteness affects comprehension in a deep dyslexic patient. Brain and Language, 84, 84-103.

Ewald, P. (1992). Konkreta versus Abstrakta. Zur semantischen Subklassifikation deutscher Substantive. Sprachwissenschaft, 17, 259-281.

Holcomb, P. J., Kounius, J., Anderson, J. & West, C. (1999). Dual-coding, context availability and concreteness effects in sentence comprehension: an electrophysiological investigation. Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory and Cognition, 25, 721-742.

Kronasser, H. (1952). Handbuch der Semasiologie. Kurze Einführung in die Geschichte, Problematik und Terminologie der Bedeutungslehre. Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag.

Schröder, A., Kauschke, C. & De Bleser, R. (2003). Messungen des Erwerbsalters für konkrete Nomina. Neurolinguistik, 17 (2), 83-114.